Projektschwerpunkt: Gegen Gewalt an
Frauen-Femizide-Frauenmorde
08.05.2021
Liebes-Oliven
„Ich liebe dich!“, rief er ihr hinterher, doch sie wussten beide, dass es eine Lüge war. Vielleicht würde sie nach dem Arbeiten abends zurückkommen, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht würde sie ein neues Leben beginnen, im Bahnhof in einen Zug einstiegen und nicht mehr zurückblicken. Was blieb ihr denn von ihrem treuelosen, nichtsnutzigen Ehemann außer blauen Flecken und vielen Tränen? Vielleicht würde sie niemals zurückkommen, vielleicht aber auch schon. Vielleicht würde sie, wie schon so oft davor, wieder einknicken und zu ihm zurückkehren. Vielleicht würde sie sich wieder auf die schönen, gemeinsamen Zeiten besinnen, als sie noch so jung und verliebt gewesen waren.
Es war gerade erst kurz vor ihrem 22. Geburtstag gewesen, sie war schon eineinhalb Jahre in Wien, der neuen, schönen, großen, aufregenden Stadt, die niemals schlief. Das anfängliche Psychologie-Studium hatte sich als Fehlinvestition herausgestellt. Doch bevor sie in das nussschalen-kleine, verschlafene Pensionisten-Nest in der südlichen Steiermark zu ihren damaligen besten und einzigen Freunden, den 100 Hügeln und den 100 Rebstöcken mit all den verschiedenen Weintrauben, zurückkehren würde, würde sie sich eine Arbeitsstelle in Wien suchen. Als Brotverkäuferin fand sie schnell eine Anstellung, sie lächelte immer und war auch ziemlich schön, damals vor so vielen Jahren. Ihre dunklen Haare hatten sich so um ihr schönes, jugendliches Gesicht geschmiegt, die Hände waren damals noch so glatt, zart. Noch heute dachte sie oft an ihre Jugend zurück.
Den Eltern erzählte sie natürlich nichts vom Studienabbruch, aber die interessierte es sowieso nicht, nichts interessierte die. Ihre Freundinnen feierten es, dass sie nun mehr Zeit mit ihnen abends auf den Partys verbringen konnte. Klar, sie musste extrem früh am Morgen aufstehen, doch sie konnte schon immer mit wenig Schlaf gut auskommen. Die Kunden mochten sie, mochten ihr Lächeln, ihre gewinnende Art, wie sie mit allen auf Augenhöhe sprach, sich nicht ungeschickt anstellte. An den richtigen Stellen mitlachte, das Brot für Familie Schneider immer samstags am Morgen schon hergerichtet hatte usw. All diese Kleinigkeiten, für die man seine Brotverkäuferin so schätzte, sie hatte sie. Nicht nur einmal kamen junge Männer in die Bäckerei, mit roten Rosen und nervösen roten Gesichtern, fragten sie nach Adresse und Telefonnummer, kauften Nussschnecken und Topfentascherl, nur um sie ihr dann zurück zu schenken. Sie wusste um ihre Wirkung auf die Männer, lächelte sie immer dankend an, verspottetet sie nicht, doch erhörte sie auch nicht. Lieber noch ein bisschen warten, dachte sie. Die werden es schon nochmals versuchen, wenn es ihnen Ernst ist.
Es war also wieder einmal Freitagabend, vor ihrem 22. Geburtstag, und sie ging mit ihren ehemaligen Studienkolleginnen in ihr Stamm-Beisel und danach noch in ihre Stamm-Disco. Wie Psychologiestudentinnen hatten sich ihre Kolleginnen eigentlich nie richtig verhalten, eher waren sie laut, tranken viel, tranken zu schnell, rauchten und zogen sich immer provokant an. Sie waren halt jung, auch sie dachte noch oft an diese Zeit zurück. Sie konnte mit ihnen über alles reden, man verstand sich gegenseitig, auch ohne Psychoanalyse. Sie beschäftigten sich alle mit den gleichen Themen: kindischen Kommilitonen, nervige Arbeitskollegen, aufdringliche Professoren mit aufgegeilten Blicken und zutrauliche alte Herren in der Backstube. Man verstand die Andere blind.
Nie verbrachten sie auch nur einen Abend ohne Gelächter, und an dem Abend, als sie ihn kennenlernte, da war es auch besonders lustig. In der Disco tanzten alle ganz wild durcheinander, sie hatte ihre Kolleginnen schon noch alle im Blick, sah sie alle noch, doch die Mädels waren schon ein bisschen verstreut. Marlene an der Bar, mit einem Typen ins Gespräch verwickelt. Anna war schon mit einem in Richtung Toilette verschwunden. Lisa hatte den DJ voll in Beschlag genommen, sie konnte sich schon vorstellen, wie sie ihn mit den positiven Einflüssen der Musik auf die Psyche des Menschen beeinflusste und beeindruckte.
Und sie selbst, sie war erschöpft vom vielen Tanzen und ging auch zur Bar, um sich noch einen Drink zu bestellen. Sie bestellte einen Martini bei dem Bekannten Alex, dem Bar-Mann ihres Vertrauens. Alleine stand sie da an der Bar und wartete auf ihren Drink. Eigentlich mochte sie Martinis gar nicht, es waren nur die Oliven, die sie wirklich, wirklich liebte. Sie hatte ab und zu so ein Verlangen, einfach Oliven zu essen. Diese kleinen grünen oder schwarzen Kugeln, herrlich. Sie starrte also begierig auf die im Hochprozentigen liegenden Kügelchen, die langsam auf sie zukamen. Sie leckte sich schnell über die trockenen Lippen, begierig darauf, in sie hineinzubeißen. Zuerst nahm sie einen großen Schluck Martini, unten war unten, und dann wollte sie gerade zum kleinen holzigen Spieß greifen, als plötzlich eine fremde Hand ihr die Olive aus ihrem Glas wegschnappte. Sie konnte ihren Augen nicht trauen.
Ein Typ sah sie aus klaren, meerblauen Augen an und lächelte entschuldigend. „Es tut mir Leid, aber ich konnte mich einfach nicht zurückhalten. Manchmal habe ich so einen Heißhunger auf Oliven. Ich liebe Oliven, das musst du wissen!“
Was sie dann zu ihm gesagt hatte, das wusste sie heute nicht mehr, oder um ehrlich zu sein, sie mochte sich nicht daran erinnern. Aber er musste ihr nicht nur einen neuen Spieß mit Oliven zur Wiedergutmachung kaufen, da konnte man sich sicher sein!
Sie war eigentlich gar nicht so eine! Eigentlich weiß sie heute nicht mehr, warum sie ihn nicht gleich mit dem restlichen Martini übergossen hatte - wie man es aus den amerikanischen Filmen kannte - und ihn lautstark weggeschickt hatte, doch diese Augen hatten einfach etwas gehabt.
So hatte sie Oliver kennengelernt. Ihren Oliven-Freak, ihren Seelenverwandten. Sie verliebte sich so in ihn, es tat in ihrer Brust weh, wenn sie nicht zusammen waren. Die meerblauen Augen Olivers verfolgen sie bis heute in den Schlaf, doch sie kann sich nicht mehr an die Liebe erinnern. Das Verbindende, das sie einst so stark gespürt hatte, war schon lange verschwunden.
Sie wusste es nicht, konnte es nicht verstehen, wie ein Mensch so werden konnte oder ob er schon immer so gewesen war. Sie hätte es doch sehen müssen, sie hätte es doch wissen müssen! Sie hätte es doch spüren müssen, riechen müssen.
Nein, er war anfangs nicht so. War sie doch schlussendlich an allem Schuld? Nein! Niemals! Weg mit diesen Gedanken!
Er war es. Er war es, der so jung heiraten wollte, eine gemeinsame Wohnung, Kinder.
Er war es, der abends anfing zu trinken. Dem sie nicht mehr genügte. Irgendwann hatte er sie einfach nicht mehr angesehen, nicht mehr so angesehen wie früher. Mit diesen meerblauen Augen. Seine Begierden waren aufgebraucht, erloschen für sie.
Es entwickelte sich langsam.
Irgendwann trank er dann nicht nur mehr am Abend, sondern auch am Nachmittag. Zuerst mit seinen Kollegen von der Baustelle im Stamm-Lokal. Irgendwann arbeitete er dann nicht mehr auf der Baustelle, es hatte ein Problem gegeben, und dann saß er alleine im Stamm-Lokal. Und trank alleine.
Sie hatte es stumm mit angesehen, unfähig zu reagieren, unfähig etwas zu tun.
©Tobias March
22.05.2021
Sieh hin – Gewalt an Frauen
Sie wusste nicht, seit wann es so war. Seit wann sie blau sah. Seit wann es so geworden war. Mit ihr. Mit Ihr und ihm. Sie konnte niemandem davon erzählen, niemals! Sie waren ja verheiratet.
Damals war es Liebe, musst es so etwas wie Liebe gewesen sein. Ist es noch immer Liebe? Sie wusste es nicht.
Sie musste jetzt aufstehen, musste weitermachen. Sie hatten immer schon weitergemacht. Sie und ihr Mann. Was hätten die anderen auch gedacht, wenn nicht. Er war ja nicht böse. Er konnte nichts dafür, er war ja nicht so. Es tat ihm leid. Jedes Mal tat es ihm danach leid. Er tat es immer nur, wenn er zu viel getrunken hatte. Der Alkohol, der Alkohol ist schuld.
Sie mussten einfach daran arbeiten, am Alkoholkonsum. An seinem Alkoholkonsum. Dann würde alles wieder gut werden. Alles wieder normal. So wie vorher.
Langsam versuchte sie aufzustehen, indem sie die Hand auf das hölzerne, dunkelbraune Kästchen im Wohnzimmer legte. Sie hievte sich auf und sah direkt in das Gesicht ihres Mannes, den sie so sehr liebte, und der ihr so viele Schmerzen antat. Innere und äußere Schmerzen. Während sie den vergoldeten und verschnörkelten Rand entlangfuhr, liefen die Tränen über ihr Gesicht.
Niemand würde kommen, um sie zu retten. Niemand würde sie verstehen, wenn sie gehen würde. Oder nicht gehen würde.
Die Leute verstehen nicht, dass Heirat auch Opfer bedeutet. Für sie mehr als für andere. Jeder im Dorf kannte sie, kannte ihren Mann, niemals würde man ihr glauben, dass er sie schlägt. Das würden die Menschen gar nicht glauben wollen. Sie würden im Gasthaus sitzen und tuscheln, hast du das gehört. In der Zeitung ist es gestanden.
Sie würden alle über sie tuscheln, warum sie sich so lange so behandeln ließ, sich das gefallen ließ. Sie würden sagen, dass sie selbst an allem schuld gewesen sei.
Zu wenig sexy, zu wenig liebevoll, zu wenig bestimmend gegen Alkohol und Missbrauch. Sie wäre zu mild gewesen oder zu rau mit ihm umgegangen, er mit seiner schwierigen Kindheit.
Sie würde sicherlich blaue Flecken bekommen. Und die Vorsorgeuntersuchung beim Dorfarzt musste sie absagen, der würde die Blessuren sofort bemerken und die Polizei einschalten.
Alle reden immer darüber, wie Frauen zu sein haben. Geliebte, Hausfrau, Mutter, gut aussehend, natürlich aber geschminkt, herausgeputzt, aber jederzeit für Hausarbeit bereit. Kirchengängerin und Partymaus, charmant, elegant und lustig.
Aber niemand sprach darüber, wie Männer sein konnten.
Sie wischte sich schnell die Tränen vom Gesicht. Jemand musste das Chaos beseitigen. Und immer wenn er getrunken und sich danach so aufgeregt hatte, hatte er einen gewaltigen Hunger.
Sie ging in die Küche.
©Tobias March
Sieh hin – Gewalt an Frauen
Sie wusste nicht, seit wann es so war. Seit wann sie blau sah. Seit wann es so geworden war. Mit ihr. Mit Ihr und ihm. Sie konnte niemandem davon erzählen, niemals! Sie waren ja verheiratet.
Damals war es Liebe, musst es so etwas wie Liebe gewesen sein. Ist es noch immer Liebe? Sie wusste es nicht.
Sie musste jetzt aufstehen, musste weitermachen. Sie hatten immer schon weitergemacht. Sie und ihr Mann. Was hätten die anderen auch gedacht, wenn nicht. Er war ja nicht böse. Er konnte nichts dafür, er war ja nicht so. Es tat ihm leid. Jedes Mal tat es ihm danach leid. Er tat es immer nur, wenn er zu viel getrunken hatte. Der Alkohol, der Alkohol ist schuld.
Sie mussten einfach daran arbeiten, am Alkoholkonsum. An seinem Alkoholkonsum. Dann würde alles wieder gut werden. Alles wieder normal. So wie vorher.
Langsam versuchte sie aufzustehen, indem sie die Hand auf das hölzerne, dunkelbraune Kästchen im Wohnzimmer legte. Sie hievte sich auf und sah direkt in das Gesicht ihres Mannes, den sie so sehr liebte, und der ihr so viele Schmerzen antat. Innere und äußere Schmerzen. Während sie den vergoldeten und verschnörkelten Rand entlangfuhr, liefen die Tränen über ihr Gesicht.
Niemand würde kommen, um sie zu retten. Niemand würde sie verstehen, wenn sie gehen würde. Oder nicht gehen würde.
Die Leute verstehen nicht, dass Heirat auch Opfer bedeutet. Für sie mehr als für andere. Jeder im Dorf kannte sie, kannte ihren Mann, niemals würde man ihr glauben, dass er sie schlägt. Das würden die Menschen gar nicht glauben wollen. Sie würden im Gasthaus sitzen und tuscheln, hast du das gehört. In der Zeitung ist es gestanden.
Sie würden alle über sie tuscheln, warum sie sich so lange so behandeln ließ, sich das gefallen ließ. Sie würden sagen, dass sie selbst an allem schuld gewesen sei.
Zu wenig sexy, zu wenig liebevoll, zu wenig bestimmend gegen Alkohol und Missbrauch. Sie wäre zu mild gewesen oder zu rau mit ihm umgegangen, er mit seiner schwierigen Kindheit.
Sie würde sicherlich blaue Flecken bekommen. Und die Vorsorgeuntersuchung beim Dorfarzt musste sie absagen, der würde die Blessuren sofort bemerken und die Polizei einschalten.
Alle reden immer darüber, wie Frauen zu sein haben. Geliebte, Hausfrau, Mutter, gut aussehend, natürlich aber geschminkt, herausgeputzt, aber jederzeit für Hausarbeit bereit. Kirchengängerin und Partymaus, charmant, elegant und lustig.
Aber niemand sprach darüber, wie Männer sein konnten.
Sie wischte sich schnell die Tränen vom Gesicht. Jemand musste das Chaos beseitigen. Und immer wenn er getrunken und sich danach so aufgeregt hatte, hatte er einen gewaltigen Hunger.
Sie ging in die Küche.
©Tobias March
16.04.2021
Seine Frau
Er wusste, dass es heute wieder so weit sein würde. Der Bauarbeiter mit der blauen Latzhose, der schon lange nichts mehr baute und schon lange nichts mehr arbeitete, der war wieder die Straße raufmarschiert. Fröhlich hatte er gelacht, ein Liedchen gepfiffen.
So als ob es heute ein schöner Tag wäre.
Er lächelte arrogant und lief auf „Valentas Stamm Beisl“ am Ende der Straße, in der Ecke der Stadt, nach dem kleinen, verkehrsberuhigten und begrünten Kreisverkehr zu! Es war das Prestige-Projekt der Bezirksvorsteher gewesen.
Doch er meint, dass sich der Bezirksvorsteher damit die falsche Priorität gesetzt hatte! Besser wäre es gewesen, wenn man für den ganzen Bezirk ein paar Sozialarbeiter eingestellt hätte. Und wenn man Gewaltprävention verpflichtend an allen Volksschulen eingeführt hätte. Da war er sich sicher. Aber der begrünte Kreisverkehr blühte vor sich hin.
In letzter Zeit kam es wieder vermehrt vor, dass der Bauarbeiter die Straße zum Beisl hin hinaufspaziert war. Es ist eine Zeit lang gut gewesen. Da beschränkten sich diese Ausflüge auf ein freies Wochenende im Monat, da hatte der Mann noch gearbeitet, er wusste es genau. Schon ganz früh am Morgen war er vom weißen kleinen Lieferwagen, in dem andere Arbeiter saßen, abgeholt worden. Genau dort, vor dem Wohnhaus. Dieses Wohnhaus stand genau seinem Fenster gegenüber – deshalb sah er alles so gut!
Und die Arbeiter sind erst spät abends wieder heimgekehrt. Weiß kalkig oder schwarz teerig, je nachdem was, wo und wie in der Stadt gebaut werden musste.
Aber seit der Krise, seit der Krise fuhr kein klein PKW mehr. Der Mann lief, er lief immer öfter zum Beisel am Ende der Straße, und er wusste es, weil er ihn genau beobachtete. Jetzt nicht unbedingt ihn, nicht seine Person. Aber die Straße. Alle Menschen, die auf der Straße liefen. Nicht bewusst, er hatte ja eigentlich so viel zu tun, musste das Forum, sein Forum, auf dem neusten Stand halten. Immer wieder musst es aktualisiert werden, er musste dazu schauen, dass niemand unanständige Sachen postete und Verstöße verwarnen. Er musste alle Fragen einordnen, sortieren, archivieren und schlussendlich beantworten. Ja, er hatte eigentlich eine Menge zu tun, doch durch das Fenster sah er immer nebenbei, was die Menschen machten. Wann sie gingen, wohin sie gingen und mit wem sie gingen.
Er wusste, dass der Mann mit der blauen Latzhose immer um 11:23 losging, fast immer jedenfalls, und dann im Beisl verschwand. Das Beisl konnte er vom Fenster aus nicht sehen, aber das war ihm auch recht. Denn es reichte ihm schon, dass er alles hörte. Stunde um Stunde wurden sie lauter. Die anderen Menschen nehmen so etwas gar nicht war, in ihrem Alltagstrott. Aber er saß ja da, und hörte es genau. Je später der Tag, desto lauter das Grölen der Musik, und desto lauter das Grölen der Gäste.
Mittags ging es ja noch. Da war der Magen voll, alle waren glücklich und man stieß auf das Leben an. Doch bis am Abend waren es dann lange Stunde, die man mit Karten spielen und Bier trinken verbringen musste.
Die einen entschieden sich dann dazu, abends etwas zu essen! Die wurden dann wieder halbwegs, durch die Kohlenhydrate und Fette. Die saugten nämlich ein bisschen Alkohol wieder auf! Das wusste er vom „Was sie über das Feiern wissen müssen“-Forum.
Die, die was gegessen hatten, torkelten dann, vom plötzlichen Geistesblitz getroffen, heim. Doch der Mann mit der blauen Latzhose, der nicht. Niemals. Das wusste er. Der trank und trank und trank immer weiter, ohne Abend zu essen, und war immer der letzte der ging. Nein, er ging nicht. Er stürzte in Richtung zuhause. Er saß da, es war immer schon spät, so zwischen halb 1 und 1, aktualisierte das letzte Mal noch sein Forum und wollte schon ins Bett gehen, da sah er sie. Wie immer, wenn ihr Mann mit der blauen Latzhose ins Beisl ging, stand sie nachts im Fenster und wartete. Sehnsüchtig war ihr Blick, und doch auch so angewidert, zornig, erschöpft. Ihre Augen sprachen mehr als 100 Worte, sie war so verletzt, das konnte er von hier aus sehen. Er wusste, dass sie sofort losgehen würde, sobald sie ihren geliebten Mann sah. Er verstand nur nicht warum. Warum sie ihn immer und immer und immer wieder holte. Der Mann verließ sich ja darauf, dass sie ihn stützen würde. Dass sie ihn liebevoll nach Hause begleiten würde, ihn in sein Bett brächte!!! Der wüsste doch nicht einmal, welche Tür er anpeilen müsste, so betrunken war der. Warum also wartete sie jeden Abend, wenn wer weg war auf ihn, und half ihm dann auch noch? Nachdem was er ihr alles Abartiges antat? Er war so ein skrupelloser, verbrecherischer, böser Mensch.
Er tippte schnell in sein Forum: Es geht schon wieder los… mit drei Pünktchen hinten nach.
Sofort kam schon die erste Antwort, Karin92 war die schnellste. Wie immer! Er fragte sich nur, wie die so schnell lesen konnte?
Sie schrieb: Nicht schon wieder. Das ist schon das dritte Mal in dieser Woche.
Alexander_Tall: Echt? Wahnsinn, schon wieder…
Bienchen_Maya schrieb: Ruf sofort die Polizei, schnell.
Sie war die sensibelste von ihnen und prompt kam auch schon die Antwort.
Markus-der-Große schrieb: @Bienchen_Maya, not again. Diese Diskussion hatten wir doch auch schon vor 2 Tagen! Was bringt die Polizei da?
Ben_Jamin schreibt darauf: Die sind doch verheiratet, das bringt gar nichts!
Er verließ die Diskussion und sah wieder auf die Straße. Seine Nachbarin hatte ihren liegenden Mann erreicht und half ihm nun auf. Er hatte einmal bemerkt, dass sie sich dabei immer auf die Lippen biss. Sie wollte nicht laut aufstöhnen und andere Nachbarn wecken, aber ihr Mann hatte doch Gewicht und half überhaupt nicht mit. Sie hievte ihn och, zogen ihn auf wie ein nasser feuchter Sack Kartoffeln, ein feuchter Sack Kartoffeln mit Alkohol-Geruch und zog ihn den Bürgersteig, unsere Straße entlang auf ihre gemeinsame Wohnung zu. Und wie jedes Mal legte er ihr die Hand zuerst auf die Schultern, um sich abzustützen. Und dann ganz plötzlich legte er ihr die Hand in den Nacken und drückte zu. Er sah es immer genau von seinem Fenster aus, sah in ihr Gesicht, wie sie erschrocken zusammenfuhr, obwohl sie es doch eigentlich schon kommen sehen müsste. Ihre erschrockenen Augen, diese Schmerzen in ihnen, Panik, und dennoch lief sie weiter, zog ihn weiter. Jedes Mal. Er verstand es nicht. Warum ließ sie ihn nicht einfach los? Warum ließ sie ihn nicht einfach fallen? Wie der Sack Kartoffeln, der er nun mal war. Sie hatte so einen Mann nicht verdient. Niemand hatte das.
Mit ihrer mageren Gestalt drückte sie die Türe auf und schob ihn durch, die Treppe hinauf, aus seinem Blickfeld. Doch er wusste, in 2 Minuten 58 Sekunden würde oben in ihrer Wohnung das Licht angehen.
©Tobias March
Seine Frau
Er wusste, dass es heute wieder so weit sein würde. Der Bauarbeiter mit der blauen Latzhose, der schon lange nichts mehr baute und schon lange nichts mehr arbeitete, der war wieder die Straße raufmarschiert. Fröhlich hatte er gelacht, ein Liedchen gepfiffen.
So als ob es heute ein schöner Tag wäre.
Er lächelte arrogant und lief auf „Valentas Stamm Beisl“ am Ende der Straße, in der Ecke der Stadt, nach dem kleinen, verkehrsberuhigten und begrünten Kreisverkehr zu! Es war das Prestige-Projekt der Bezirksvorsteher gewesen.
Doch er meint, dass sich der Bezirksvorsteher damit die falsche Priorität gesetzt hatte! Besser wäre es gewesen, wenn man für den ganzen Bezirk ein paar Sozialarbeiter eingestellt hätte. Und wenn man Gewaltprävention verpflichtend an allen Volksschulen eingeführt hätte. Da war er sich sicher. Aber der begrünte Kreisverkehr blühte vor sich hin.
In letzter Zeit kam es wieder vermehrt vor, dass der Bauarbeiter die Straße zum Beisl hin hinaufspaziert war. Es ist eine Zeit lang gut gewesen. Da beschränkten sich diese Ausflüge auf ein freies Wochenende im Monat, da hatte der Mann noch gearbeitet, er wusste es genau. Schon ganz früh am Morgen war er vom weißen kleinen Lieferwagen, in dem andere Arbeiter saßen, abgeholt worden. Genau dort, vor dem Wohnhaus. Dieses Wohnhaus stand genau seinem Fenster gegenüber – deshalb sah er alles so gut!
Und die Arbeiter sind erst spät abends wieder heimgekehrt. Weiß kalkig oder schwarz teerig, je nachdem was, wo und wie in der Stadt gebaut werden musste.
Aber seit der Krise, seit der Krise fuhr kein klein PKW mehr. Der Mann lief, er lief immer öfter zum Beisel am Ende der Straße, und er wusste es, weil er ihn genau beobachtete. Jetzt nicht unbedingt ihn, nicht seine Person. Aber die Straße. Alle Menschen, die auf der Straße liefen. Nicht bewusst, er hatte ja eigentlich so viel zu tun, musste das Forum, sein Forum, auf dem neusten Stand halten. Immer wieder musst es aktualisiert werden, er musste dazu schauen, dass niemand unanständige Sachen postete und Verstöße verwarnen. Er musste alle Fragen einordnen, sortieren, archivieren und schlussendlich beantworten. Ja, er hatte eigentlich eine Menge zu tun, doch durch das Fenster sah er immer nebenbei, was die Menschen machten. Wann sie gingen, wohin sie gingen und mit wem sie gingen.
Er wusste, dass der Mann mit der blauen Latzhose immer um 11:23 losging, fast immer jedenfalls, und dann im Beisl verschwand. Das Beisl konnte er vom Fenster aus nicht sehen, aber das war ihm auch recht. Denn es reichte ihm schon, dass er alles hörte. Stunde um Stunde wurden sie lauter. Die anderen Menschen nehmen so etwas gar nicht war, in ihrem Alltagstrott. Aber er saß ja da, und hörte es genau. Je später der Tag, desto lauter das Grölen der Musik, und desto lauter das Grölen der Gäste.
Mittags ging es ja noch. Da war der Magen voll, alle waren glücklich und man stieß auf das Leben an. Doch bis am Abend waren es dann lange Stunde, die man mit Karten spielen und Bier trinken verbringen musste.
Die einen entschieden sich dann dazu, abends etwas zu essen! Die wurden dann wieder halbwegs, durch die Kohlenhydrate und Fette. Die saugten nämlich ein bisschen Alkohol wieder auf! Das wusste er vom „Was sie über das Feiern wissen müssen“-Forum.
Die, die was gegessen hatten, torkelten dann, vom plötzlichen Geistesblitz getroffen, heim. Doch der Mann mit der blauen Latzhose, der nicht. Niemals. Das wusste er. Der trank und trank und trank immer weiter, ohne Abend zu essen, und war immer der letzte der ging. Nein, er ging nicht. Er stürzte in Richtung zuhause. Er saß da, es war immer schon spät, so zwischen halb 1 und 1, aktualisierte das letzte Mal noch sein Forum und wollte schon ins Bett gehen, da sah er sie. Wie immer, wenn ihr Mann mit der blauen Latzhose ins Beisl ging, stand sie nachts im Fenster und wartete. Sehnsüchtig war ihr Blick, und doch auch so angewidert, zornig, erschöpft. Ihre Augen sprachen mehr als 100 Worte, sie war so verletzt, das konnte er von hier aus sehen. Er wusste, dass sie sofort losgehen würde, sobald sie ihren geliebten Mann sah. Er verstand nur nicht warum. Warum sie ihn immer und immer und immer wieder holte. Der Mann verließ sich ja darauf, dass sie ihn stützen würde. Dass sie ihn liebevoll nach Hause begleiten würde, ihn in sein Bett brächte!!! Der wüsste doch nicht einmal, welche Tür er anpeilen müsste, so betrunken war der. Warum also wartete sie jeden Abend, wenn wer weg war auf ihn, und half ihm dann auch noch? Nachdem was er ihr alles Abartiges antat? Er war so ein skrupelloser, verbrecherischer, böser Mensch.
Er tippte schnell in sein Forum: Es geht schon wieder los… mit drei Pünktchen hinten nach.
Sofort kam schon die erste Antwort, Karin92 war die schnellste. Wie immer! Er fragte sich nur, wie die so schnell lesen konnte?
Sie schrieb: Nicht schon wieder. Das ist schon das dritte Mal in dieser Woche.
Alexander_Tall: Echt? Wahnsinn, schon wieder…
Bienchen_Maya schrieb: Ruf sofort die Polizei, schnell.
Sie war die sensibelste von ihnen und prompt kam auch schon die Antwort.
Markus-der-Große schrieb: @Bienchen_Maya, not again. Diese Diskussion hatten wir doch auch schon vor 2 Tagen! Was bringt die Polizei da?
Ben_Jamin schreibt darauf: Die sind doch verheiratet, das bringt gar nichts!
Er verließ die Diskussion und sah wieder auf die Straße. Seine Nachbarin hatte ihren liegenden Mann erreicht und half ihm nun auf. Er hatte einmal bemerkt, dass sie sich dabei immer auf die Lippen biss. Sie wollte nicht laut aufstöhnen und andere Nachbarn wecken, aber ihr Mann hatte doch Gewicht und half überhaupt nicht mit. Sie hievte ihn och, zogen ihn auf wie ein nasser feuchter Sack Kartoffeln, ein feuchter Sack Kartoffeln mit Alkohol-Geruch und zog ihn den Bürgersteig, unsere Straße entlang auf ihre gemeinsame Wohnung zu. Und wie jedes Mal legte er ihr die Hand zuerst auf die Schultern, um sich abzustützen. Und dann ganz plötzlich legte er ihr die Hand in den Nacken und drückte zu. Er sah es immer genau von seinem Fenster aus, sah in ihr Gesicht, wie sie erschrocken zusammenfuhr, obwohl sie es doch eigentlich schon kommen sehen müsste. Ihre erschrockenen Augen, diese Schmerzen in ihnen, Panik, und dennoch lief sie weiter, zog ihn weiter. Jedes Mal. Er verstand es nicht. Warum ließ sie ihn nicht einfach los? Warum ließ sie ihn nicht einfach fallen? Wie der Sack Kartoffeln, der er nun mal war. Sie hatte so einen Mann nicht verdient. Niemand hatte das.
Mit ihrer mageren Gestalt drückte sie die Türe auf und schob ihn durch, die Treppe hinauf, aus seinem Blickfeld. Doch er wusste, in 2 Minuten 58 Sekunden würde oben in ihrer Wohnung das Licht angehen.
©Tobias March